Dass Maler auch als Bildhauer arbeiten, ist häufiger zu
beobachten. Dass Bildhauer zugleich als eifrige Zeichner
in Erscheinung treten auch. Dass ein genuiner Bildhauer
große, wandfüllende Acrylbilder schafft, kommt aber doch
vergleichsweise selten vor. Genau diesen Weg, vom realen
Raum in die gemalte Bildfläche hinein, ist Horst Kuhnert in
den letzten Jahren mit großer Konsequenz gegangen.
Dies ist überraschend, vor allem weil er damit ein Grundprinzip
umkehrt, das sein Schaffen über viele Jahre bestimmt hat.
Jahrelang war es als Bildhauer sein Anliegen, »von der Fläche
in den Raum« zu gehen, waren seine Skulpturen und Wandreliefs
aus gleichmäßigen Flächenelementen aufgebaut, die
seine Prinzipien verkörperten und seine Herkunft aus der konstruktiven
Tradition bezeugten. Noch seine aktuellen Skulpturen,
die aus klarstrukturierten, dreikantigen Elementen bestehen, verweisen
auf diese systematische Konstruktion in den sie umgebenden
Raum hinein. Darüber hinaus haben diese neusten Werke
jedoch eine spielerische Freiheit und eine räumliche Komplexität
erlangt, die sie von Kuhnerts früheren plastischen Arbeiten absetzt
und zugleich zu seinen aktuellen Acrylbildern überleitet.
Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass die neuen Skulpturen
und die neuen Acrylarbeiten des Künstlers formal und
inhaltlich eng miteinander verknüpft sind; ja fast scheint es so,
als ob die Acrylbilder raffinierte Projektionen seiner dreidimensionalen
Arbeiten darstellen. Räumliche Drehungen, Knoten und
Überschneidungen finden sich hier wie dort. Hinzu kommt eine
eigentümliche, aber bewusst provozierte Tiefenwirkung, die der
Bildhauer Kuhnert in seinen Bildern anlegt – ein sehr kokettes
Spiel mit Illusion, Räumlichkeit und formaler Komplexität.
Erzeugt wird diese räumliche Komplexität durch große, farbige
Flächen, die Kuhnert unter seine linearen Raumgeflechte legt.
Ihre zufällig hervortretenden Schnittstellen »zerstören« auf
produktive Weise die zweidimensionale Ausbreitung der Linienstrukturen,
irritieren unbewusst die Wahrnehmung des Betrachters
und brechen den malerischen Raum in die Tiefe auf, eine
nichtperspektivische Räumlichkeit entsteht.
Horst Kuhnerts neue Bilder sind Experimente mit dieser nicht oder
auch antiperspektivischen Räumlichkeit. In ihren suggestiven
Untiefen kann er weiter vordringen, als es ihm als Bildhauer
im realen Raum je möglich gewesen wäre. Seine vielverzweigten
Geflechte evozieren Gedanken an technische Strukturen oder
futuristische Weltraum-Architekturen. Sie erinnern aber auch
an die technoiden Gebilde, die Marcel Duchamp bei seinen
Recherchen zum »Großen Glas« ersonnen hat. Von Duchamp
ist bekannt, dass er sich sehr bewusst mit den Darstellungsmöglichkeiten
einer vierten Dimension auseinander gesetzt hat.
Kuhnert gehört nicht zu jenen Künstlern, die mathematische
Theorien zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit machen. Dennoch
hat er, auf anderem Weg als Duchamp, eine Möglichkeit
gefunden, räumliche Konstellationen zu erzeugen, die seine
früheren, dreidimensionalen Werke an Komplexität übertreffen.
Dem Weg vom Raum zur Fläche, folgt der Schritt in die Tiefe.
Stephan Geiger